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Reisefieber...

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lucyfire71's avatar
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Endlich es ist soweit. Der erste Urlaubstag.
Ich sitze am Bahnhof. Drei Stunden bevor mein Zug eintrifft, um mich dorthin zu tragen, wo ich mein Herz verlor. Noch drei Stunden warten. Aber ich liebe es auf dem Bahnsteig zu sitzen und die Atmosphäre zu genießen. Die ein- und abfahrenden Züge, die ein leises Singsang von sich geben. Nicht mehr wie früher, dass es einem beim Bremsen fast das Trommelfell zerriss. Sondern ganz modern. Es klingt fast wie eine Tonleiter, mit leisen Tönen, die mich friedlich einlullen.

In Urlaubsstimmung.

Gespannt sitze ich auf der Bank und beobachte die Gesichter der Menschen, die von einem Gleis zum anderen eilen. Es macht mir Spaß sie zu beobachten. Die Hektik in ihren Augen. Das Heimweh oder auch die Sehnsucht in die Ferne. Ich fühle es direkt in mir.
Teile ihre Anspannung und Entspannung. Menschentrauben sammeln sich um mich. Studieren ihre Fahrpläne und auch ich schaue nun zum Xten- mal auf meine Fahrkarte.

Noch zweieinhalb Stunden.

Die Aufregung lässt mich zittern. Ich kann es spüren, wie sie in meiner Wirbelsäule kribbelt, die Nervenbahnen entlang strömt, meine Muskeln kitzelt und in meinen Adern entlang rauscht, bis zu meinem Bauch, in dem sich alles sammelt, um ein Wirrwarr der Gefühle anzustiften.
Ein Kind hüpft und springt mit seinen kleinen Füssen über die Linien, die auf dem Boden angezeichnet sind.
Mal mit einem Fuß, dann beide.
Ich beobachte es eine kurze Weile.

Es ist faszinierend, wie sehr Kinder zu beeindrucken sind, ihre naive Neugierde, wie sehr sie noch in ihrer Phantasiewelt schweben, und für kleine Dinge zu begeistern sind, die der Erwachsene schon längst vergessen hat und nicht mehr wahrnimmt. Phantasie. Verloren in der Welt der Oberflächlichkeit und der Gier nach Materialismus. Phantasie. Einfach verdrängt. Zerplatzt, wie ein Luftballon, sobald die erste Lohntüte in den Händen gehalten wird.

Noch zwei Stunden.

Es wird kühl. Ich öffne meine Thermoskanne und verschütte den heißen Tee auf meine Hose, anstatt ihn in den kleinen Becher zu leeren. Typisch ich eben. Meine Hose riecht nach Pfefferminztee und der Fleck brennt auf meinem Bein. Das Kind lacht mich kreischend an. Mit seinem kleinen schokoladeverschmierten Mund.
Ich kann es nicht noch hören. Ich sehe nur, wie sich die kleinen Lippen erfreut auf und ab bewegen. Denn laute Musik hallt jetzt durch meine Kopfhörer. Lässt mich den Alltag vergessen. Die Last der beruflichen Verantwortung fällt von mir.

Keine Steine sondern Felsen. Die direkt neben mir auf den Boden fallen und ein tiefes Loch hinein reißen, in dem all meine Verpflichtungen mit hinunter gezogen werden. Keine Gedanken mehr an den Chef, der einen mit Argusaugen kontrolliert.

Keine Sorgen. Nur Musik, die mich belebt. Und mich einstimmt.
Auf die freien Tage, die ich mit dir verbringen werde.

Eine Stunde und neununddreißig Minuten noch.

Ich zünde mir eine Zigarette an. Über mir hängt ein Schild, mit dem „Rauchen verboten" Bild. Es schaukelt im sanften Wind, kreist über meinem Haupt, wie das berüchtigte Damoklesschwert und zeitweise mache ich mir Sorgen, ob es richtig montiert ist. Keinen Meter weiter sind zwei Zigarettenautomaten aufgestellt und innerlich muss ich fast lachen. Nichtraucherschilder und Zigarettenautomaten.
Wie widersprüchlich.

Ein Zug fährt ein. Wieder sammeln sich einige Menschen um mich, die vor Ungeduld fast vergehen. Die Hektik rumort laut. Menschen kommen und gehen. Wohin sie der Zug wohl führen wird?
Wie viel Träume er wohl an ihr Ziel bringen wird? Und wie viel Sorgen?
Nicht mehr lange und auch mein Zug wird kommen.

Genau noch eine Stunde und sieben Minuten.

Ich zähle genau mit. Vielleicht kommt er überpünktlich, vielleicht mit Verspätung. Es wäre nichts Neues. Und er wird mich mitnehmen. In die alte Heimat. In der ich meine Kindheit gelassen habe. Und meine letzte Liebe. Die Erinnerungen trage ich in mir. Hüte sie wie einen Schatz. Sobald ich die Grenzen passiert und mit wackeligen Beinen den Boden betreten habe, fließen sie wieder aus meiner Seele in meine Gedanken. Lassen mich alte Zeiten erneut erleben. Hüllen mich in nervöse Freude und auch etwas Angst. Wie wird sich der Augenblick wohl anfühlen, wenn du dann am Gleis auf mich wartest und ich dich nach langer Zeit wieder sehe? Du wartest auf mich. Nicht auf deine Freundin, sondern auf mich.

Ich mag nicht mehr warten und mich in Träumerei verlieren, wie etwas sein wird. Es wird doch so oder so passieren. Ich drehe ein paar Runden um meinen riesigen Koffer. Eine Minute sind 6 Runden mit winzigen Schritten.
Ich schaffe genau dreiundzwanzig Runden, bevor ich schwindelig auf die Bank falle.

Der Fleck auf meiner Hose ist kleiner geworden, der minzige Geruch begleitet mich wohl noch eine Weile. Aber allemal besser, als sämtliche andere Gerüche hier auf dem Bahnhof.

Zweiundvierzig Minuten.

Der Schaffner lacht mich an. Wegen dem großen Koffer. Was soll's, ich bin eine Frau und bediene das Klischee. Eine Woche Urlaub und habe den ganzen Kleiderschrank mit. Dabei ziehe ich dann die Hälfte gar nicht an. Zur Sicherheit. Man weiß ja nie, welcher Schönheit man noch begegnen wird. Bei der es auch bloß bei einem kurzen Lächeln bleiben wird.
Aber dann wenigstens mit Eindruck.

Ich weiß schon, dass ich auf dem Heimweg fluchen werde. Über die Last.
Ich teste die Schwere des Koffers. Immerhin muss er nach zwei Käsebrötchen, die ich grade hinunter gewürgt habe, doch leichter sein.

Noch fünfunddreißig  Minuten.

Ich laufe bereits zum dritten Mal zur Wagonstandanzeigetafel. Könnte ja sein, dass sich etwas verändert hat. Dann muss ich den schweren Koffer wieder zu einem anderen Platz zerren. Nein, immer noch Gleis Sechs, mein Abteil, laut Auskunft zwischen C und D.

Auf dem Rückweg zu meinem Sitzplatz komme ich an einem Futterautomaten vorbei. Vollgepackt mit den ungesündesten Süßkram, den es gibt. Nein doch nicht, ganz unten in der Ecke gibt es, in kleine Tüten portionierte Obststücke. Wahrscheinlich genmanipuliert.
Mhh, lecker. Wie lange die da wohl schon lagern? Wenn ich mir eine aus dem Automaten ziehe, ob die Kulturen dann anfangen zu reden? So eine Tüte könnte vielleicht meinen Mp3- Player ersetzen und Batterien muss ich dann auch keine mehr kaufen. Vielleicht kann ich ja mit ihnen kuscheln?
Mit ihrer weichen graugrünen Behaarung. Einfach nur eklig.

Noch achtundzwanzig Minuten.

Ich setze mich wieder und zünde mir erneut eine Zigarette an. Zum Lesen oder Rätseln fehlt es mir an Ruhe. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, flieht meine Gelassenheit. Sie weicht der Freude und dem Kribbeln im Bauch.
Der Bahnsteig füllt und leert sich. Ich bin wieder fast alleine und genieße einfach nur.

Und schon wieder verirren sich meine Gedanken zu dir. Sie gurren, wie die bunten Tauben zwischen den stählernen Pfeilern. Ich werfe ihnen ein paar Brotkrümel zu, die noch auf meiner Jacke haften, die sie gierig erkämpfen. Meine Gedanken sind wie die Tauben. Du wirfst mir ein Lächeln zu und ich verschlinge es gierig. Verstecke es in meinem Herzen, bis es anfängt zu gurren und zu turteln. Eine Reserve für schlechte Zeiten, an dem dein Lächeln mich fröhlich stimmen wird.

Zwölf Minuten.

Ich wandere wieder umher. Oh, in der elektrischen Abfahrtsanzeige kann ich mich spiegeln. Meine Güte, meine Haare sind vom Wind zerzaust.
Dabei will ich doch gut aussehen, wenn ich aus dem Zug steige.
Hmm, lange Wimpern, so wie du es magst. Ich übe mein Strahlefrau- Lächeln. Hoffentlich sieht mich keiner. So in der Spiegelung sehe ich besser aus, als ich dachte. War ich schon immer so eitel?

Drei Minuten noch.

Ich eile zum Koffer. Kurzer Test. Immer noch so schwer. Wie soll ich den bloß ins Abteil bekommen? Tja, da muss mir wohl ein netter Mann helfen.
Eine gute Tat für heute. Männern ihr Ego aufbauen. Habe ich das wirklich nötig?

Der Teefleck ist weg. Der Duft verflogen.  

Die Zugansage ertönt. Die Frau am Apparat klingt wie bei einer 0900 Nummer. Ganz erotisch haucht sie in das Mikrofon. Wie interessant. Was die wohl grade tut? Eine Maus müsste man doch manchmal sein. Was man denn da alles erleben würde.

Noch eine Minute.

Ich male mir wieder die Augenblicke aus, wie es wohl sein wird, wenn ich aus dem Zug steige. Hinein falle, in dein verzückendes Lächeln. In deine, vor Freude glänzenden, Augen. Deine warmen Arme, die sich um meinen Körper schmiegen werden. Die Sekunden, in denen wir uns festhalten werden, verschmelzen dann zu einer kleinen Ewigkeit.

Mein Zug kommt. Endlich.

Ich bin ein Nervenbündel meiner Sehnsüchte.
Ein älteres Werk von mir....

:D
© 2012 - 2024 lucyfire71
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Tutziputz's avatar
Und ich entdecke immer wieder neue Seiten an Dir. Die ganze Geschichte ist gespickt mit feinen, ja manchmal sogar tiefgründigen Humor, und einer wunderschönen Selbstironie. Ich stelle gerade fest, dass ich versonnen lächelnd vor dem Labtop hocke, während ich diese Zeilen schreibe - wirkt vermutlich ein wenig schwachsinnig, aber zum Glück sieht mich ja keiner (selbst unsere Katzen sind inzwischen eingeschlafen). :)

Ja, aber die Geschichte ist eine absolut gelungene Durchmischung von zum Teil versonnener, zum Teil auch kritisch-ironischer Selbstbetrachtung, der Beobachtung einer typischen Bahnhofsumgebung - ständig unterbrochen von der langsamen Progession der fortschreitenden Zeitangaben. Und die Sprache gibt wirklich die Urlaubsstimmung, die gewaltige Vorfreude auf das Wiedersehen wieder. :love:

Noch nie habe ich diese humorvolle und völlig unbeschwerte Seite deines Schreibstils kennengelernt. Ich hatte recht, als ich irgendwann einmal feststellte, Du seiest vielseitig!